Laufen – Meine Überlebenskonstante auch mit Krebs

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Dr. Sandra Otto – Laufen macht sie glücklich und standhaft im Kampf gegen den Krebs. (Foto: privat)

Früher verband ich Sport, insbesondere das Laufen mit Seitenstechen, Atemnot, Belustigungen, Ausgrenzungen. Ich gehörte zu der „sportlichen Elite“, die im Sportunterricht bis zum Schluss übrig blieb, wenn Mannschaftsbildungen anstanden. Irgendwie verständlich, denn für die 100 Meter Sprint in gut 18 Sekunden verdiente ich eine glatte 10. Die Skala reichte jedoch nur bis zur Note fünf (bzw. später die sechs). Einzig Schwimmen, Leistungskontrollen zu Kräftigungsübungen mit dem eigenen Körpergewicht und Dauerläufe retteten mich. Durchaus schaffte ich in diesen Disziplinen sogar mal eine eins oder zwei. Damit überraschte ich nicht nur mich. Sondern auch meine Mitschüler hänselten mich mal nicht. Alles in allem blieb ich ein Sonderling, in schulischen Leistungen super, sportlich eine Niete. Gerade dies lehrte mich, frühzeitig mit mentalen Schlägen in die Magengrube und dem Alleinsein klar zu kommen. So lief ich als Teenie für mich durch die Felder, ging regelmäßig schwimmen, trainierte das Rumpfheben aus Rücken- und Bauchlage zu Hause.

Mit dem Führerschein erschloss sich mir ein regelmäßiges Training im Fitnessstudio. Doch bei allen Kursen und sportlichen Neuerungen, die mir die 1990er Jahre boten, begleitete mich das Laufen als flexible Alternative durch das Studium und den beruflichen Weg. Unabhängig von Öffnungszeiten, Geräten und anderen Menschen lief ich für mich und mit mir durch die eisige Morgenluft in Mühlhausen/Thüringen, entlang der Skiloipen in Jyväskylää/Finnland, durch Warschau, überquerte abends die Newa in St. Petersburg. Das Laufen bildete den körperlichen Ausgleich zur geistigen Tätigkeit, ließ mich abschalten und weiterhin anders sein. Irgendwann lief ich den anderen davon.

2005 dann überredete mich ein Freund zu meiner ersten Wettkampfteilnahme über fünf Kilometer. Völlig perplex stellte ich fest, wie schnell ich im Vergleich zu den altehrwürdigen und ambitionierten Laufprofis war. Ein Jahr später nahm ich an meinem ersten Halbmarathon an der Goitzsche teil, dem unzählige weitere Läufe folgten. Ich war wirklich gut, landete bei großen Läufen im vorderen Mittelfeld, hin und wieder gelang mir eine Platzierung. Ich drang in einen Kreis, der mich für meine sportlichen Leistungen beglückwünschte und bewunderte, mich, die sportliche Niete. Und ich rannte auch nicht mehr allein, verabredete mich hin und wieder zu Trainingsläufen. Mit jedem Laufkilometer mehr änderte ich zunächst unbewusst, dann aber gezielter meine Lebens- und Laufeinstellung. Ich freute mich auf die gemeinsamen langen Läufe am Wochenende, den stillen Morgenläufchen in der winterlichen Kälte noch bevor die Vögel erwachten. Durch den Verzicht auf Alkohol, der Vermeidung durchfeierter Nächte, der Urlaubsplanung rund um Laufveranstaltungen veränderte sich mein Freundeskreis, meine Einstellung zum Beruf und dem Leben. Laufen bedeutete für mich Spaß, Freiheit, Unabhängigkeit, Loslassen, Dabeisein ohne Druck und übersteigerter Selbstdisziplin.

Mitten in dieser für mich ungestümen Zeit entdeckte ich im Laufkalender einen Halbmarathon Ende August 2007 am Cospudener See in Markkleeberg. Ich eroberte mir den zweiten Platz bei den Frauen und das Herz meines jetzigen Ehemannes, der mich spontan ansprach und seitdem mit mir durch das Leben läuft. Auch, als mir das Leben erstmals die Diagnose Brustkrebs am 29. September 2011 mit auf den Laufweg gab. Ich rauchte nicht, trank nicht, ernährte mich gesund, trieb regelmäßig Sport. Erst Ende August 2011 hatte ich den Cospudener Seelauf als Gesamtsiegerin bei den Damen gefinisht, zwei Wochen zuvor den Mitteldeutschen Marathon über die 21,1 Kilometer mit einem Lächeln beendet. Wir bezogen gerade unser Haus, wollten Kinder, ich hatte eine neue Führungsaufgabe übernommen. Doch fortan bestimmte die Krankheit mein Handeln. „Wir müssen aus allen Rohren schießen“, bekräftigte mir meine behandelnde Ärztin. Dies bedeutete: Operation, Chemotherapie über sechs Zyklen, erneute Operation, Bestrahlung und ein Jahr lang weitere Infusionen. Ohne Garantie.

Ich heulte, heulte, rang nach Atem, heulte, suchte eine Zuflucht, einen geschützten Raum für mich, irgendwo, wenn nicht außerhalb, dann in mir. Laufen? „Laufen, na ja, maximal fünf Kilometer um den Block“, meinte die Onkologin. „Laufen. Probieren Sie alles aus. Ihr Körper gibt Ihnen schon ein Stopsignal“, meinte meine behandelnde Ärztin.

Mit Schlägen in die Magengrube kannte ich mich aus. Ironie meines Lebens, an meinem tiefsten Punkt gerade aus meiner vermeintlich schlechtesten Disziplin der ersten Jahresschritte – dem Laufen – Kraft und Zuversicht schöpfen zu wollen. Doch Laufen konnte ich allein, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Es machte mich körperlich fertig, sodass ich Schlaf finden konnte. Es saugte mich mental aus, wenn ich nur lange und schnell genug lief. Für wenige Momente befreite ich meinen Kopf. Während des Laufens entschied ich mich gegen die Entnahme von Eierstockgewebe. Während des Laufens verabschiedete ich mich von meiner linken Brust. Während des Laufens verschob ich den Beginn meiner Akutbehandlung um eine Woche, um noch einmal am Dierhäger Staffelmarathon teilzunehmen.

Am 12. Oktober 2011 ging es los. Klinikaufenthalt, Entnahme Lymphknoten. Ich spazierte täglich durch den nahegelegenen Park. Irgendwann fragten die Schwestern nicht mehr nach, ließen mich gewähren. Nach weniger als einer Woche rannte ich bereits wieder mein gewohntes Level. Anfangs noch zögernd ob der OP-Narbe, meinte die Ärztin: „Na, dann nähen wir sie eben wieder zu.“ Am 26. Oktober 2011 die erste Chemo, Dauer ca. 8 Stunden. Danach war ich leer und voll zugleich. Am Folgetag kämpfte ich mich joggend durch körperliche Watte um meinen Haussee, den Cospudener See. Aber es lief. Während der gesamten Akutbehandlung bewegte ich mich jeden Tag mindestens zwei Stunden an der frischen Luft, entweder gemächlich joggend oder wandernd. Der Mensch ist für 15 bis 20 Kilometer Laufen pro Tag geboren, d.h. 1,5 bis 2 Stunden gemäßigtem Joggingtempo. Dies schaffte ich objektiv gerade nicht. Aber zwei Stunden Bewegung schon. Meine Tagesarbeit sah ich in diesen zwei Stunden Bewegung pro Tag. Dabei konnte ich heulen, kotzen, schreien. Es war Winter und ich meistens allein mit der Natur.

Es gab Tage, an denen mir die Motivation fehlte. Mein Mantra in dieser Zeit: Mit jedem Laufschritt tötest Du eine Krebszelle ab. Zwei Monate nach Ende der Chemotherapie, einen Monat nach der Brust-OP und kurz vor Beginn der Bestrahlung finishte ich meinen ersten Halbmarathon „danach“ in Leipzig. Ich konnte es noch! JA! Damit war mir doch alles möglich.

Ich lernte, wieder zu träumen. Das Laufen gab mir Kraft für persönliche und berufliche Pläne. Die Vorbereitungen auf meinen ersten Marathon nach Krebs liefen sprichwörtlich nach Plan. Doch irgendwann übertrieb ich es mit den Trainingseinheiten, im Beruf, den begleitenden Therapiemaßnahmen. Ich fühlte mich müde, schlapp. Erst eine Zerrung. Dann ertastete ich etwas. Im April 2013 stand die Diagnose Rezidiv. Alle waren ratlos. Für meinen Spezialfall gab es keine wirklich empfehlenswerte Standardtherapie. Nach der Operation nahm ich mir ein paar Tage Urlaub, fuhr an die Ostsee, rannte kreuz und quer über den Darß. Ich spürte das Kribbeln in meinen Beinen, den beißenden Schweiß in den Augen, meinen heißen Atem, sah meinen hochroten Kopf im Spiegel. Dies wollte ich weiterhin, doch egal, welchen Preis ich bereit war, zu zahlen, gab es keine Garantie.

Meine beste Freundin gab den entscheidenden Ausschlag. Hatte ich es einmal geschafft. „Hör mir zu, Meine, und das sage ich Dir nur einmal. Du kämpfst und Du gibst nicht auf.“ Danke. Dies hatte ich gebraucht.

Nach Trainingsplan ging ich meine zweite Chemotherapie über sechs Zyklen an. Letzte Gabe: 18.12.2013. Konkretes Ziel. Dazwischen 35 Grad im Hochsommer. Die Nebenwirkungen der Chemotherapie verwandelten meine Füße in einzige Blasen, die aufgingen und wieder neu wuchsen. Egal. Ich biss die Zähne zusammen, joggte gemächlich viermal pro Woche meine Runde im Wechsel zu zweistündigen Wanderungen pro Tag. Wie bei der ersten Chemotherapie musste ich nicht einmal aussetzen oder verschieben, fing mir nichts ein und blieb dem Laufen treu. Heute laufe ich nicht mehr so schnell, dafür ausdauernder und länger. Ich bin zäher
und schmerzunempfindlicher körperlich und mental. Sachlich und fokussiert steuere ich mittlerweile private und berufliche Ziele an, halte mich nicht mehr an für mich unabänderlichen Lebensträumen auf. Ich bin härter gegenüber mir selbst und meinem Umfeld.

Der Moment zählt für mich. Heute wähle ich ein Tempo, bei dem ich mir vorstelle, unendlich weiterrennen zu können. Ohne das Laufen, meiner Überlebenskonstanten, könnte ich diese Zeilen nicht schreiben. Am Ende eines jeden Tages danke ich mir und meinem Leben für dieses Geschenk. Ich bin nicht mehr so leistungsfähig wie
früher. Als Ausgleich versuche ich durch mein privates Engagement etwas zurückzugeben, beispielsweise durch das Buch „Laufen mit, trotz, gegen Brustkrebs. Wie ich um mein Leben renne“ aus der Achim Achilles Bewegungsbibliothek.

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Das „Haus Leben“ (www.hausleben.org) in Leipzig erhält pro verkauftem Exemplar einen Euro meines Honorars. Somit stiftet meine Laufverrücktheit sogar einen Sinn für andere. Vielleicht läufst Du ja auch oder liest und spendest? Mein Leben dankt Dir dafür.

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