Gelesen: Krebs – Der König aller Krankheiten

Buchcover König aller Krankheiten_kompWer sich mit der Krankheit Krebs beschäftigen möchte oder muss, der wird irgendwann auf Siddhartha Mukherjees Buch “Der König aller Krankheiten“ stoßen. Der Bestseller breitet die Geschichte der Krebsforschung und Krebstherapie über Jahrtausende detailreich aus. Ein Onkologe sagte mir einmal, dieses Buch habe ihn berührt, weil er die Frustration wiedererkenne. Jedoch nicht die Frustration der Patienten, sondern die der Ärzte. Ist das Buch auch für Krebspatienten hilfreich? Sie haben das Buch gelesen? Dann wollen wir auch Ihre Einschätzung kennen lernen: schreiben Sie uns an web@hausleben.org oder über das Kommentarfeld in diesem Beitrag. Dieser Beitrag gibt die persönliche Einschätzung des Autors wieder. 

Wer als Krebspatient oder Angehöriger eines Patienten mit diesem Buch verstehen möchte, was Krebs ist und was genau ihm da gerade widerfährt, der wird wahrscheinlich enttäuscht. Dem medizinischen Laien wird sich das Buch in an vielen Stellen ohnehin nicht erschließen, weil Fachbegriffe und komplexe Zusammenhänge unkommentiert dargestellt werden.

Die Krankheit in ihren Grundzügen zu verstehen, wäre aber hilfreich, denn wir Menschen haben umso mehr Angst vor einem uns bedrohenden Ereignis, je weniger wir es verstehen. Krebs als unheimliche und unerklärliche „Blackbox“ wahrzunehmen, über deren Mechanismen er nichts weiß, wird für den Patienten spätestens dann kritisch, wenn er sich die Frage nach dem „Warum“ stellt, die schnell zur quälenden Frage nach (eigener) Schuld werden kann.

Laut Klappentext ist das Buch „Ein Versuch, in den Geist dieser unsterblichen Krankheit einzudringen, ihre Persönlichkeit zu verstehen, ihr Verhalten zu entmystifizieren“. Es mag sein, dass es gegen Krebs auf absehbare Zeit keine 100prozentig wirksamen Therapien geben wird. Krebs deshalb als „unsterblich“ zu deklarieren, baut jedoch keine Mythen und Ängste ab, sondern auf. Krebs bzw. Krebszellen sind keineswegs unsterblich, sie haben nur die Fähigkeit verloren, sich selbst als defekt zu erkennen und zu zerstören (Apoptose). Diese Fähigkeit zur Selbstdiagnose und -zerstörung der Zelle ist eine der wichtigsten Schutzfunktionen des Körpers. Sie wirkt, lange bevor das Immunsystem auf das Problem aufmerksam wird und einschreitet (Nekrose). Gleichwohl können Krebszellen sterben, anderenfalls gebe es auch keine Erfolge in der Krebstherapie. Es wäre gut gewesen, hier etwas weniger Pathos zu entfalten, denn wenn die Krankheit „unsterblich“ ist, dann kann in der Auseinandersetzung mit ihr eigentlich nur der Patient sterben. Krebs ist eine extrem gefährliche Krankheit, aber sie ist heute nicht zwingend ein Todesurteil.

Krebszellen haben auch keine Persönlichkeit und keinen gerichteten Willen. Krebs ist eine Ansammlung fehlerhafter Körperzellen, die durch eine Abfolge mehr oder weniger zufälliger Ereignisse ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle sowie ihre Funktion im biologischen Gesamtsystem verloren haben, die sich unkontrolliert entwickeln und in der Lage sind, durch die Zerstörung umliegenden gesunden Gewebes Raum für das eigene Wachstum zu schaffen (die Eigenschaft, in umliegende/s Gewebe/Organe zerstörend einzuwachsen und diese/s zu zerstören, macht die Gefährlichkeit von Krebs aus). Im Grunde ist in diesem Kontext sogar die Bezeichnung „bösartig“ unglücklich, denn die Voraussetzung für “Bösartigkeit” wäre ein bewusster, zielgerichteter Wille sowie eine emotionale Beteiligung. Deshalb ist Krebs auch nicht „perfide“, wie der Klappentext des Buches verkündet. Solche Zuweisungen von Eigenschaften dienen dem Verständnis der Krankheit Krebs wenig, dafür umso mehr dem Schüren von Angst und Ohnmacht.

Das Buch irritiert zudem immer wieder mit einer theatralischen Sprache und Darstellung, bspw., wenn Mukherjee auf S. 374 das fiktive Schicksal der Zwillingsschwestern “Hoffnung” und “Vorsicht” umreißt, wobei allein schon die Namensgebung polarisiert. Beide Schwestern erkranken in dieser fiktiven Geschichte 1990 unbemerkt an Krebs. “Hoffnung” unterzieht sich 1995 einem Vorsorgetest, bei dem der Tumor entdeckt wird. Sie lässt sich operieren und chemotherapieren, später stellt sich ein Rezidiv ein, 2000 stirbt sie an Krebs. “Vorsicht” hingegen lässt sich aus Angst vor einer Über- oder Unterdiagnose nicht untersuchen, entdeckt ihre Krebserkrankung erst 1999, als diese schon nicht mehr therapierbar ist und stirbt daran, ebenfalls 2000. Mukherjee kommt im Ergebnis dieser fiktiven Geschichte zu dem Ergebnis, „dass das Screening keinen Vorteil gebracht hat“. Können wir uns also alle entspannt zurücklehnen und einfach mal abwarten? Mukherjee negiert hier die Tatsache, dass ein Tumor umso besser behandelt werden kann, je früher er entdeckt wird. Oder dass eine frühzeitige Entdeckung zumindest Handlungsoptionen erschließt, die einem Patienten mit einem unentdeckten Tumor verschlossen bleiben.

Er lässt auch die Problematik von „Über-“ und „Unterdiagnose“ unkommentiert, wodurch der Leser leicht den Eindruck bekommt, es handele sich hier um negative Effekte von Vorsorge und Früherkennung. Eine Unterlassung, die auch in der aktuellen Diskussion über Sinn oder Unsinn von Screenings immer wieder zu beobachten ist.

Dabei heißt „Unterdiagnose“ (in Bezug auf eine Krebserkrankung) nichts anderes, als dass ein Tumor bei der Untersuchung nicht entdeckt oder korrekt bewertet wird (was kein Argument dagegen sein kann, es mit vertretbarem Aufwand nicht zumindest zu versuchen), während als „Überdiagnose“ beschreiben wird, dass ein Tumor entdeckt und behandelt wird, der dem Patienten möglicherweise zu Lebzeiten keine Probleme bereitet hätte. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn es sich um einen sehr langsam wachsenden Tumor eines Patienten in sehr fortgeschrittenem Alter handelt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod dann aufgrund anderer Ursachen eintritt, würde keine Belastungen des Patienten durch massive Therapien rechtfertigen.

„Überdiagnosen“ sind aber kein Problem der Vorsorge und Früherkennung, sondern der anschließenden Therapieentscheidung. Die Therapie muss nur den individuellen Bedingungen des Patienten angepasst werden (Lebenssituation, Risiken, Nebenwirkungen, Alter, Begleiterkrankungen).

Bedauerlich ist, dass Mukherjee den Nutzen von Vorsorge und Früherkennung pauschal in Frage stellt. Man mag über Details der Krebsvorsorge kritisch nachdenken. Sie generell in Frage zu stellen oder zumindest dem Laien diesen Eindruck undifferenziert zu vermitteln, ist gefährlich, denn das Buch richtet sich nicht ausdrücklich an ein Fachpublikum, wird jedoch in der Verlagswerbung nicht als Fachbuch eingeordnet. Das kann man dem Autor wahrscheinlich nicht vorwerfen, denn das Buch könnte durchaus als Fach- und Geschichtsbuch konzipiert gewesen sein. Immerhin empfiehlt das Buch vorbeugendes Verhalten im Alltag: gesunde Ernährung, viel Bewegung, Nichtrauchen, Vermeidung von Übergewicht und übermäßigem Sonnenbaden.

Dass die Erzählung in machen Abschnitten dennoch informativ und unterhaltsam ist, liegt an der opulenten Ausbreitung geschichtlicher Details. Oft ist diese jedoch zu detailreich, denn es werden Geschichten erzählt, die mit dem Thema des Buches nicht viel zu tun haben (Wetterbericht, Speisekarte eines Kongresses, Lieblingsgetränk eines Arztes, …). „Zähe Detailfreude“ nennt Werner Bartens diesen Erzählstil in der Süddeutschen Zeitung*:

„Es ist ja richtig, dass in der Medizin, wie auch in anderen Erkenntnisbereichen, Wissen und Erfolg oft auf den Leistungen der Vorgänger aufbauen. Durch viele Passagen des Buches muss man sich allerdings kämpfen. Manchmal wünscht man sich, der Autor hätte Voltaires Bonmot beherzigt, wonach das Geheimnis zu langweilen darin besteht, alles zu sagen. Doch die präsentierte Wissensfülle, die uferlose Gier des Autors nach Geschichten und Geschichtchen liefert gleichzeitig den Schlüssel dafür, dass Mukherjee keine stumpfe Fortschrittsapologetik betreibt und auch nicht die Helden der Krebsmedizin feiert. Der Respekt vor den bösartigen Tumoren, die sich den Skalpellen, Strahlen und Arzneien der Ärzte immer wieder entziehen, ist ihm vielmehr durchweg anzumerken, und das nicht nur weil er den Krebs als „König aller Krankheiten“ bezeichnet. […] Dennoch dominieren in Siddhartha Mukherjees Buch die (in dieser Reihenfolge) Misserfolge und Erfolge der Ärzte und Forscher. Hier können Ärzte wie Patienten spüren, dass es in der Krebsmedizin selten schnelle Siege und häufig ein zähes Ringen und ernüchternde Rückschritte gibt, und dass die barmherzige Betreuung und Begleitung der Kranken daher umso wichtiger ist.“

Das Vorwort zum Buch stammt von Fritz Pleitgen, der dabei leider über die Auswahl seiner Zitate zu einem unangenehmen Pathos neigt: „“Immer wieder bringt der Autor seinen Respekt vor den Patienten zum Ausdruck. In einem Interview sagt er: „Sie haben ihr Leben geopfert, damit wir diese Erkrankung besser verstehen lernen““.

Die Patienten haben ihr Leben geopfert? „Sich opfern“ würde im konkreten ethischen Bedeutungsfeld heißen, Krebspatienten hätten zugunsten der Forschung und des Kenntnisgewinns des Arztes bewusst und freiwillig auf ihr Leben verzichtet. Hier wird ein Rollenbild von Arzt und Patient gezeichnet, dass rückwärtsgewandter** kaum sein könnte. Zustimmen kann man hingegen der Fortführung des Zitats: „Das kann bedeuten, Krebs kulturell zu verstehen; es kann bedeuten, seine gesellschaftliche Dimension zu begreifen oder an klinischen Studien teilzunehmen. Es kann auch bedeuten, Präventionsmaßnahmen voranzubringen“.

In einem Punkt hat Mukherjee aber uneingeschränkt recht, wenngleich dieser Gedanke in seinem Buch weitgehend zu kurz kommt:

„Die Geschichte des Krebses ist nicht die Geschichte von Ärzten, sie ist die Geschichte der Patienten, die kämpfen und überleben und von einem Aufbäumen der Krankheit zum nächsten ziehen. Widerstandskraft, Erfindungsreichtum und Überlebensfähigkeit: Diese Eigenschaften, die häufig großen Ärzten zugeschrieben werden, sind in Wahrheit gespiegelte Eigenschaften; zuerst bringen die Patienten sie auf, die mit der Krankheit kämpfen, und danach erst jene, die sie behandeln.“

Fazit: „Der König aller Krankheiten“ ist für ein Fachpublikum und für geduldige Geschichtsinteressierte sicherlich interessant. Ein Krebspatient auf der Suche nach Erklärungen und therapierelevanten Informationen findet für 26 EUR bessere Verwendungen.

Siddhartha Mukherjee: „Der König aller Krankheiten. Krebs – eine Biografie“, Dumont Buchverlag, 26 Euro.

* Werner Bartens, Demut vor dem Tumor, SZ vom 26.05.2012, http://sz.de/1.1369322
** „To be patient“ bedeutet nichts anderes, als geduldig zu sein. Von Latein über Französisch und Englisch übernommen ist der Patient jemand, der sich gedulden muss (abgeleitet von patientia/patiens: das Ertragen, Ausdauer, Geduld). Damit wird oft zugleich die klassische Rollenverteilung zwischen Arzt und Patientbeschrieben. Der Arzt handelt, der Patient folgt und ist dabei in einer weitgehend passiven Rolle.

Dieser Text stellt die persönliche Meinung des Autors dar. Er muss nicht zwangsläufig die Meinung des Haus Leben e. V. bzw. der mit ihm verbundenen Personen oder Organisationen wiedergeben.

Dieser Beitrag ist zuvor erschienen auf www.leitfaden-krebs.de

2 Kommentare

  1. Vielen Dank für diese Rezension. Sie zeigt eine andere Seite des Buches bzw. der Denkart des Autors. Andere Kritiken im Internet sehen das Buch auch skeptisch.

  2. Sehr ich auch kritisch. Sollte man im Hinterkopf haben, wenn man das Buch liest. Wir sind Patienten und Menschen, keine Märtyrer oder Laborratten.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.