Kennt Krebs „Gerechtigkeit“? Ein Arzt und ein Mathematiker sagen: Krebs ist weitgehend Pech

Nikita Bulatov, behance.net, Lizenz: CC BY-NC 3.0

Nikita Bulatov, behance.net, Lizenz: CC BY-NC 3.0

Harry Hole, die Hauptfigur in Jo Nesbøs Thriller “Leopard”, ist nicht gerade der Typ Mann, der übermäßig über seine Gesundheit nachdenkt (eigentlich lässt er nichts aus, um sie zu ruinieren). Dennoch lässt Nesbø ihn einen Dialog über Gerechtigkeit und Krebs führen, der die Gedanken von wahrscheinlich 80 Prozent aller Patienten nach der Krebsdiagnose zusammenfasst: “Warum? Warum gerade ich?” Oder noch weitergehend: “Warum ich, und nicht der/die …”

Harry und sein Freund Øystein führen ein Gespräch über die Krebserkrankung von Harrys Vater: “Das Leben ist echt ungerecht”, sagte Øystein. “Dein Vater hat nie was getrunken, machte sonntags lange Spaziergänge und hat als Lehrer gearbeitet. Während mein Vater gesoffen hat wie ein Loch, in der Kadokfabrik arbeitete, in der alle Asthma oder seltsame Allergien bekamen, und sich keinen Millimeter mehr rührte, wenn er erst zu Hause auf dem Sofa lag. Und der ist heute fit wie ein Fisch im Wasser.”

Mit einem Satz: Krebs ist nicht gerecht. Wie sollte “er” auch? Gerechtigkeit ist ein von Menschen erdachter Wert, den die Natur nicht kennt. In der Natur gibt es kein gerecht und ungerecht, nur Überleben als kurz-, und Fortpflanzung und Wachstum als langfristiges Ziel.

Es führt zu nichts, der Erkrankung Werte entgegenzustellen, die gegen die Erkrankung sprechen sollen: dieser Mensch hat doch immer gesund gelebt, war immer so positiv, hat Familie, hat einen wichtigen Beruf (Stellung in bzw. Nutzen für die Gesellschaft als Wertmaßstab !), … Es ist auch nicht sinnvoll, über “Schuld” nachzudenken.

Krebs ist das Ergebnis zufälliger Wechselwirkungen unserer Gene, unseres Körpers, unserer Umwelt und unseres Verhaltens (→Beitrag). Unseres Verhaltens? Sind wir also doch selbst schuld und haben die anderen, die nicht krank sind, etwas besser gemacht? Nein, denn unser Verhalten steigert oder senkt zwar das persönliche Risiko (die am häufigsten genannten Verhaltensfaktoren sind ungeeignete Ernährung, Bewegungsmangel, Sonne, Rauchen), wir können durch ein bestimmtes Verhalten aber Krebs weder mit Sicherheit ausschließen, noch führt ein bestimmtes Verhalten zwangsläufig zu Krebs.

Dafür ist immer die Kombination einer Reihe von Entwicklungen erforderlich, auf die wir nur zu einem kleinen Anteil Einfluss haben. Cristian Tomasetti und Bert Vogelstein kommen in einem aktuell in der Fachzeitschrift Science** veröffentlichten Aufsatz sinngemäß zu dem Ergebnis: Krebs ist biologisches Pech. Nach ihrer Auffassung sind zwei Drittel aller Tumore unter Erwachsenen die Folge zufälliger, spontaner Mutationen im Erbgut. Nur in einem Drittel der Fälle sind erbliche Vorbelastung oder Umwelteinflüsse (wozu auch unser Verhalten zählt!) die Hauptursache.

Was nicht heißt, dass wir nicht im Interesse unserer Gesundheit versuchen müssen, das beeinflussbare Risikopotential zu reduzieren! Denn die Biologie des Lebens ist in ihrer Komplexität fehleranfällig, wir müssen ihr nicht auch noch zusätzlich Sand ins Getriebe werfen.

“Was habe ich getan?”, fragte sich die Journalistin Stefanie Rosenkranz nach ihrer Brustkrebsdiagnose und einer erschöpfenden Suche nach Antworten im Internet. Die Antwort Ihrer Ärztin: “Nichts. Sie haben Brustkrebs, weil Sie eine Frau sind und weil Sie älter werden. Jede achte Frau in der westlichen Welt hat irgendwann diese Krankheit. Machen Sie Ihren Computer aus.”***

Wer mehr darüber wissen möchte: Hier gibt es einen Beitrag zur der Studie in der ZEIT vom 2.1.2015 (lesenswert!), hier in der WELT.

*Jo Nesbø, Leopard, Ullstein, 10. Auflage 2014, 145-146
**Cristian Tomasetti, Bert Vogelstein (2015) Variation in cancer risk among tissues can be explained by the number of stem cell divisions. Science 2 January 2015: Vol. 347 no. 6217 pp. 78-81
***Stefanie Rosenkranz. Von unserem Leben mit Krebs. Stern, 42/2011, S55

1 Kommentar

  1. Liebes Hausleben-Team, vielen vielen Dank für diese Sichtweise. Ich habe mir selbst schon anhören müssen, dass ich doch in der Vergangenheit irgendetwas falsche gamcht haben muss, weil ich an Krebs erkrankt bin. Ich habe nie geraucht, war immer sportlich, habe sehr auf meine Ernährung geachtet. Es wäre gut, wenn die Menschen verstehen, dass Krebs wirklich jeden treffen kann!
    Liebe Grüße
    Susi

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.