Drei Wünsche habt ihr frei

Julia Müller: Drei Wünsche habt Ihr frei!

„Gott sei Dank, es ist ein Hodgkin-Lymphom. Ihre Heilungschancen liegen bei 95 Prozent“, so übermittelte mir mein Arzt die Diagnose am 13. März 2014. Nach einem Klinikaufenthalt und einer emotionalen Achterbahnfahrt hatte ich Gewissheit. Endlich konnte etwas gegen den elenden Reizhusten, die schwindende Leistungsfähigkeit und den Appetitmangel unternommen werden, unter denen ich nun schon seit Monaten litt.

Anfangs noch glücklich über die Modelmaße, die ich erreicht hatte, schöpfte ich noch keinen Verdacht, dass ich die Konfektionsgröße 36 dem Krebs zu verdanken hatte. Wer denkt mit 21 schon an sowas? Wer vermutet hinter einem Husten schon Krebs, wenn man bislang gesund und munter durch das Leben spazierte?! „In deinem Alter hat man doch schlimmstenfalls einen Kater oder eine Erkältung“, so eine Stimme aus meinem Bekanntenkreis. Aber Krankheit ist keine Frage des Alters, wie ich nun am eigenen Leib erfahren musste. Jung zu sein war jedoch zugleich ein Vorteil, da die Nebenwirkungen der Chemo- und Strahlentherapie in jungen Jahren besser verkraftet werden. Ich hatte also Glück im Unglück, wenngleich man sich „Glück“ doch eigentlich ganz anders vorstellt.

„Wenn sie die Therapie überstanden haben, gehen sie als erwachsener Mensch zurück ins Leben. Sie werden sich stärker fühlen als je zuvor.“ Diesen Satz werde ich niemals vergessen. Mein Arzt gab ihn mir mit auf den Weg vor Beginn der Therapie. Er wurde zum Strohhalm in mancher Leidensphase meiner Erkrankung, mein Mantra in schweren Stunden.

Ich unterzog mich vier Zyklen Chemotherapie, die sich als besonders qualvoll erwiesen, da die Übelkeit mein ständiger Begleiter war. Bereits eine Woche nach dem ersten Giftcocktail hielt ich die ersten Haarbüschel in den Händen. Meine geliebten Haare. Mit jedem einzelnen Haar entfernte ich mich auch ein Stück weiter von meinem „alten“ Leben, meinem Leben ohne Herrn Hodgkin. Besonders schmerzlich war für mich, dass mit dem Verlust der Haare die Krankheit auch für andere Menschen sichtbar wurde. Auch jetzt noch fühle ich mich zerbrechlich, sobald ich Veränderungen an meinem Körper wahrnehme.

Doch der Krebs sollte mir nicht das nehmen, was alle an mir am meisten mögen – mein Lächeln!

Deshalb überwand ich die Scheu vor dem Blick in den Spiegel, indem ich mich meiner Kreativität bediente und meine Glatze mit blauer Farbe anpinselte. Anschließend verkleidete ich mich, sodass ich aussah wie Genie aus Aladins Wunderlampe. Es folgte ein Schnappschuss mit der Kamera. Das Foto stellte ich bei Facebook mit der Bildunterschrift online: „Ihr habt drei Wünsche frei!“.

Damit brachte ich nicht nur mich selbst zum Lachen, sondern auch meine Familie und unglaublich viele Freunde und Bekannte auf dieser Internetplattform. Von Beginn an meiner Erkrankung war ich mir in einer Sache ganz sicher, nämlich, dass ich keinen Grund dazu hatte, Herrn Hodgkin zu verheimlichen. Wer mich aufrichtig gern hatte, musste auch ihn in Kauf nehmen. Eine Perücke lehnte ich ab. Also setzte ich einen neuen Trend: Mützen im Hochsommer. Ohrringe waren mein neuer Haarersatz. Sie belebten das Gesicht. Zu jedem Outfit hatte ich ein passendes Paar. Einen großen Teil meines Krankengeldes gab ich für Schmuck und neue Klamotten aus. Das schaffte kurzzeitige Glücksmomente und verhalf mir zu einem besseren Körpergefühl. Außerdem besuchte ich einen Kosmetikkurs im Haus Leben in Delitzsch, in welchem ich lernte, mit kleinen Handgriffen ein wenig frischer auszusehen.

Doch dies waren nur Äußerlichkeiten. Anfangs machte ich noch gute Miene zum bösen Spiel. Ich wollte mir meine seelischen Wunden nicht anmerken lassen. Stark sein wollte ich für Familie und Freunde, keine Schwäche zugeben und den Anschein erwecken, alles im Griff zu haben.

Doch es kamen Momente, in denen ich Angst und Traurigkeit nicht mehr verbergen konnte, meine Kräfte nicht mehr ausreichten, um die Probleme allein zu bewältigen. Sogar weinen klappte manchmal nicht mehr, so groß war der innere Schmerz. Ich musste lernen, nicht nur die Krankheit anzunehmen, sondern auch mich selbst mit meiner eigenen Schwäche. Freunde, Familie und medizinisches Personal an den Gefühlen Anteil haben zu lassen, ist für die meisten Menschen selbstverständlich, für mich bedeutete es eine der größten Herausforderungen meiner Krebserkrankung.

Doch ich machte die positive Erfahrung, dass alles halb so schwer ist, wenn man sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber ehrlich ist. Mit zunehmender Offenheit wurden die Sorgen kleiner und es gab wieder Lichtblicke für mich. „Stell dir vor, dass die Hoffnung dein Schwert ist in diesem schweren Kampf und die Angst dein Gegner“, gab mir eine Krankenschwester mit auf den Weg.

Ihr und dem Team der Onkologie in Delitzsch habe ich eine Menge zu verdanken. Bei der täglichen Arbeit mit Schwerkranken bewahren sie sich trotz Allem ihr Lächeln. Wenn eine Praxis mit Herzblut arbeitet, dann ist es diese.

Momente der Angst und Traurigkeit gibt es noch immer, allerdings weiß ich nun, dass ich auch diese Schlacht gewinnen kann, da ich eines noch immer besitze – und das ist Hoffnung! Heute geht es mir wieder gut, ich freue mich auf ein Leben ohne Medikamente. Außerdem ersehne ich den Tag, an dem ich aufstehe und nicht als erstes an meine Krankheit denke. Im Moment bin ich nur glücklich, wenn mir das Essen schmeckt und ich erfreue mich besonders an meiner morgendlichen Tasse Kaffee.

Ich genieße heute vieles mehr, gönne mir häufiger etwas. Besonders wertvoll ist für mich die Zeit, die ich mit Freunden und Familie verbringe. Das Verhältnis zu ihnen ist heute noch viel inniger. Für meine Zukunft habe ich keine konkreten Pläne. Ich habe gelernt, dass das Leben nicht planbar ist. Dennoch träume ich davon, eine eigene Familie zu gründen und die Welt zu sehen. Ich möchte mich auch beruflich weiterentwickeln. Vor der Diagnose hatte ich – neben meiner Arbeit als Ergotherapeutin – eine berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieherin begonnen. Gerade ein halbes Jahr arbeitete ich Teilzeit in einer Kindertagesstätte in Delitzsch und betreute mit weiteren Kollegen eine Krippengruppe. Kaum hatte ich richtig Fuß gefasst, die Kinder fest ins Herz geschlossen, da überrumpelte mich meine Erkrankung. Aufgrund der erhöhten Infektionsgefahr war es mir unmöglich, die Kinder während der Therapiephase zu besuchen.

Außerdem wünsche ich mir, dass ich andere Menschen in irgendeiner Weise durch meine Erfahrungen, die ich während meiner Erkrankung gemacht habe, bereichern kann. In welcher Form dies geschehen wird, das ist noch offen.

Julia verliert ihr Lachen nicht
Julia verliert ihr Lachen nicht

PS: Das Bild „Julia verliert ihr Lachen nicht“ entstand vor meiner letzten Chemotherapie. Ich hatte große Angst, weil die vorherige Chemo nicht ganz reibungslos verlief. In dieser Situation wollte ich mir Mut machen und mich selbst wieder zum Lachen bringen, da kam mir die blonde Perücke in den Sinn. Wegen der vielen Medikamente vor meinem geistigen Auge, die wieder auf mich warteten, musste ich an die Apothekenwerbung denken „Bei Risiken und Nebenwirkungen …“. Mit meiner Schwester machte ich dann verschiedene Aufnahmen, dieses Bild war unser Favorit.

Anmerkung der Redaktion: Liebe Julia, was Ihren Wunsch anbelangt, anderen Menschen in dieser Situation Mut zu machen, so haben Sie dieses Ziel heute schon erreicht!

Julia Müller ist auch bei Facebook.

19 Kommentare

  1. Liebe Jule,

    ich drück Dir die Daumen, dass Du Dir Deine Stärke behältst und bin ganz zuversichtlich, dass es so ist. Dein Beitrag hier hat mich sehr berührt, in der Gänze haben wir das ja so nicht mitbekommen. Bei Facebook waren es eher Ausschnitte…

    Du wirst Deinen Weg gehen und er wird aufregend und schön werden.

    Drück Dich 🙂

    • Das ist unglaublich lieb und mitfühlend! Liebsten Dank <3

      Ich drück dich auch!

  2. Liebe Julia, Dein Bericht hat mir Mut gemacht. Danke und alles gute für Dich!

    • Eigentlich sind es Kommentare wie DEINE, die mir Mut machen. Vielen lieben Dank 🙂

  3. Den Verlust der Haare halten machen Leute (besonders die, die es nicht betrifft!!!) nur für ein Eitelkeitsproblem. „Die wachsen doch wieder“!! Wenn ich das schon höre. Du hast das richtig beschrieben, das eigentlich Schwierige daran ist, dass dann alle sehen können, dass du nicht gesund bist. Hier beschreibt eine junge Frau, wie sich das anfühlt, ihre Haare als “Schutzmauer” zu verlieren http://hausleben.org/krebs-und-sexualitaet-ein-radiobeitrag/
    Mach weiter so, auch wenn es bestimmt mal dunkle Stunden geben wird! Ohne Traurigkeit geht es nicht. Sie hilt uns, die Erlebnisse zu verarbeiten.

    • Liebe Christina, ich sehe, wir sind da der gleichen Meinung was die Haare anbelangt. Diese gut gemeinte Floskel ist in einem Augenblick, indem man sich sowieso schon sehr verwundbar fühlt, alles andere als hilfreich. Inzwischen glaube ich, dass die Leute dies aus einer gewissen Unsicherheit heraus sagen. Zugleich sind sie machtlos, weil sie genau wie man selbst, dem Problem nicht entgegenwirken können. Sie wollen sich zugleich emotional zu dieser Situation abgrenzen, indem sie einem vor Augen führen, dass die Situation ja nicht ausweglos ist…weil die Haare ja irgendwann wiederkommen. Es besteht aber ein Unterschied darin, ob man sich freiwillig die Haare abrasiert oder ob man dazu gezwungen wird. Sich der Krankheit ausgeliefert zu fühlen, sich ihr ergeben zu müssen, weil man keine andere Wahl hat..das ist der entscheidende Punkt. Oft bringt eine Umarmung in solch einer Lage mehr zum Ausdruck als tausend Worte. Ich wünsche dir alles Liebe und Gute! Übrigens hast du vollkommen recht damit..die Traurigkeit hat genauso ihre Daseinsberechtigung wie die Freude.

    • Deine Worte sind so schön zu lesen, vor allem, wenn man gerade von der Chemo kommt 🙂 Also wenn noch einer zu mir sagt „Haare wachsen nach“, dann tick ich glaub aus. Am liebsten würde ich dann den Haarschneider zücken, demjenigen alles abrasieren und sagen „Was hast du denn? Haare wachsen doch nach?!“. Ich finde das so unsensibel. Natürlich verliere ich lieber die Haare als das Leben. Aber das tut einfach weh und darf meiner Meinung nach nicht so banal abgestempelt werden.

      Bei mir fing übrigens auch alles damit an, dass ich essen konnte was ich wollte und ich trotzdem abnahm. Krebs zehrt einfach an einem, egal, wo der miese Verräter sitzt. Das war aber definitiv die angenehmste Nebenwirkung von allen 😀

      Behalt deinen Mut und dein Lächeln 😉 Die körperlichen Veränderungen zeigen unsere unheimliche Schwäche, aber dem Krebs jeden Tag so gut es geht ins Gesicht zu Lachen zeigt unsere unendliche Stärke!

      Ich wünsche dir einfach nur alles Gute und ganz viele krebsfreie Tage 😉

      • Ich danke dir für deinen tollen Beitrag und die lieben Wünsche 🙂

        Das ist so wahr, was du sagst. Natürlich nimmt man den Verlust der Haare in Kauf, wenn man weiß, dass man damit sein Leben rettet. Da ist so eine Aussage wirklich unsensibel. Man darf auch wütend sein, wenn man sowas an den Kopf geknallt bekommt. Ich glaube da ist auch wieder der Punkt, dass viele Leute glauben, dass es sie nicht treffen kann mit dieser Erkrankung. Da sagt es sich auch leicht daher. Aber wie du schon sagtest, würde man mit dem Rasierer vor ihnen stehen, würden sie mit Sicherheit anders darüber denken. Vieles ist unüberlegt, leider.
        Bleib tapfer und stark, wenn sie dir die Giftbomben verabreichen!!!! Ich wünsche dir aaaaaalles Liebe und Gute! Ich drück dir fest die Daumen 🙂
        Lach dem Krebs auch weiterhin ins Gesicht..das gefällt ihm nämlich nicht 😉

  4. Liebe Julia, ich wünsche Dir viel Kraft auf Deinem weiteren Weg. Wenn ich mich hier und bei Facebook umschaue, dann hast Du dein Ziel schon erreicht, anderen Menschen etwas von deiner Energie und Deinem Optimismus abzugeben!

    • „Mit etwas Glück …“ Julia hat uns heute geschrieben, dass Sie beim Pink Shoe Day dabei sein wird.

  5. Liebe Julia,
    Vielen Dank! So verletzt und so tapfer, mutig und aufrichtig! So stark und so schön! Bleiben Sie so lebensfroh, wie sie sind. Ich wünsche Ihnen Glück, die Erfüllung Ihrer Träume und viele farbenfrohe Überraschungen, die das Leben nie langweilig werden lassen.
    Bis bald im Offenen Atelier in Delitzsch,
    Marlies Doehler-Bischoff, Kunsttherapeutin

    • Liebe Frau Doehler – Bischoff,

      Ihre Worte haben mich auf ganz besondere Weise berührt! Vielen Dank!
      Ich freue mich auf die nächsten farbigen Experimente 🙂

      Herzliche Grüße, Julia

  6. Liebe Julia, ich bin über Facebook auf diesen Beitrag gestoßen und bin ganz begeistert sowohl von deinem Text als auch von den Kommentaren. Schön, dass du dir Zeit nimmst, jedem auch zu antworten. ich wohne leider nicht in der Nähe, sonst würde ich Hausleben unbedingt besuchen. Ganz liebe Grüße von der Perle

    • Liebe Perle, ich freue mich sehr über deinen Kommentar. Für mich ist das Beantworten eine Herzensangelegenheit. Vielleicht wäre das ja mal ein Grund für dich die Stadt Leipzig zu besuchen 🙂 Ich grüß dich ganz lieb zurück

  7. Liebe Julia, es ist so wundervoll, dass Du die mehr als anstrengende und kraftzehrende Therapie hinter Dich gebracht hast. Ich bin voller Bewunderung für Euch junge Menschen, die von Mr. Krebs heimgesucht werden. Ihr schafft es, ihm die Stirn zu bieten und ihn auszulachen. Viele Frauen in meinem Alter schaffen dies nicht!! Liebe Julia, als Mutter einer Tochter, die selbst gerade mitten in ihrer Therapie steckt, wünsche ich Dir für Deine gesunde Zukunft alles Gute und jedes Glück, das Dir das Leben geben kann. Ganz liebe Grüße von Maxis Mama

  8. Liebe Maxi- Mama, vielen Dank für Ihre lieben Zeilen! Ihre Worte gehen mir sehr nah. Bewundernswert ist ebenso, wenn man als betroffene Mutter, die ja mindestens genauso leidet wie das eigene Kind, so viel Kraft aufbringt, um anderen noch Mut zu zusprechen. Davor ziehe ich meinen Hut. Ich wünsche Ihnen und Maxi von ganzem Herzen alles Liebe und Gute!! Gaaaaaanz viel Kraft für alles was noch kommt!!! Maxi kann ganz glücklich und dankbar sein, so eine tolle Mutmacherin an der Seite zu haben. Herzlichst, Julia

  9. Meine liebe Julia,ich war so sehr berührt und erstaunt,wie ein so junger Mensch so einen Text verfassen kann,so vollkommen abgeklärt.Ich habe ihn mit Lisa gemeinsam gelesen,mir liefen
    einfach die Tränen,Du hast es auf den Punkt gebracht und ich muss gestehen,Du bist jetzt schon um so vieles reifer als ich.Ich freue mich,das ich Dich kennen lernen durfte und hoffe,das ich von Deinem Lachen noch ganz oft etwas zu sehen bekomme.
    Du bist einfach unglaublich!Gib gut auf Dich acht und lass Dich nicht verbiegen,Du bist richtig wie Du bist!!!!!Drück Dich ganz doll!!